Für eine englische Übersetzung bitte die kalifornische Flagge anklicken.
Click the California flag for an English translation of this site

Das Ende der Welt

Die Osterinsel - der Untergang und die Wiedergeburt einer polynesischen Kultur.

Stellt Euch eine Welt vor, die all ihrer Rohstoffe beraubt und hoffnungslos überbevölkert ist. Stellt Euch einen Bürgerkrieg vor, der seit drei Generationen andauert, alle Kulturgüter Eures Volkes zerstört hat und kein einziges Buch übrig lies. Stellt Euch den totalen Zusammenbruch der Umwelt vor: Kein Wasser, keine Bäume, keine Lebensmittel und keine Hoffnung für die Überlebenden.

Was würdet Ihr sagen, wenn ich Euch erzählte, daß das alles bereits stattgefunden hat? Es passierte vor 300 Jahren und niemand hat etwas davon bemerkt. Es passierte auf einer kleinen Insel, der einsamsten Insel der Welt, 3900 km vom nächsten Festland entfernt. Die Insel ist kaum größer als Sylt, aber für die, die auf ihr lebten, stellte sie die ganze Welt dar.

Die Einwohner lebten seit 57 Generationen vom Rest der Welt isoliert und glaubten fest daran, die einzigen Menschen der Welt zu sein. Für alle anderen war das Universum ein gewaltiger Sternenhimmel mit der Erde im Mittelpunkt; für die Menschen hier war das Universum ein riesiges Meer mit einer kleinen Insel im Zentrum. 2000 Jahre lang stellte niemand diese Ansicht in Frage; 2000 Jahre lang lebten die Menschen hier im Paradies. Doch dann kam der Moment an dem die Insel die wachsende Bevölkerung nicht mehr ernähren konnte. Und auch die Bäume konnten nicht mehr so schnell nachwachsen, wie sie gefällt wurden um Feuerholz und Baumaterial zu erlangen. Mit dem letzten Wald verschwanden die Regenwolken, und mit dem Regen verschwand die Nahrung. Und als der letzte Baum fiel, konnte man nicht einmal mehr ein Boot bauen, um der Misere zu entgehen und aus einem Streit um eine Schüssel Reis wurde ein Bürgerkrieg, der in 100 Jahren alles zerstörte was eine einmalige Kultur in 2000 Jahren geschaffen hatte.
Im 18. Jahrhundert "entdeckten" europäische Seefahrer die Insel und die Einwohner, geschwächt von einem drei Generationen währenden Krieg, hatten der Invasion nichts entgegenzusetzen. Die überlebenden Einwohner wurden versklavt und die wenigen Kulturgüter, die den Krieg unversehrt überstanden hatten, fielen den Raubzügen der Holländer und Spanier zum Opfer. Bis heute ist es nicht gelungen, die wenigen verbliebenen Schriftstücke zu entziffern und eine Quelle jahrtausendalter Weisheiten ist damit für immer versiegt.
Sklavenjäger waren nicht die einzigen Invasoren. Mit den Schiffen kamen Ratten, Katzen und exotische Pflanzen. Die Insel, seit Jahrhunderten bis an die Grenze des Ertragbaren ausgebeutet, konnte sich nicht wehren und die einheimische Tier- und Pflanzenwelt verschwand zusehens. Und das war noch nicht das Ende. Im 19. Jahrhundert wurde die Insel der chilenischen Marine unterstellt, und obwohl diese das Beste wollte, zerstörte sie doch in kurzer Zeit alles, was Bürgerkrieg und Kolonisation noch gelassen hatten.
Die Marine wollte neue Wälder auf der Insel anlegen. Gute Idee, falsche Methode. Man wählte schnellwachsenden Eukalyptus, und da dieser hier keine natürlichen Feinde hatte, führten die Bäume sich auf wie eine Horde blutgieriger Piraten und zerstörten so ziemlich alles, was noch an einheimischen Pflanzen übrig war. Noch nicht schlimm genug? Über die Jahre waren die eingeschleppten Ratten zu einer echten Plage geworden, und die Marine versuchte, das Problem zu lösen indem man Falken auf der Insel aussetzte. Das Ergebnis: Den Ratten geht es besser als je zuvor, aber Manu Tara, der heilige Vogel der Insel, konnte nur in letzter Minute vor dem Aussterben bewahrt werden.
Zum Glück haben die Dinge in letzter Zeit einen besseren Verlauf genommen. Der Tourismus hat die Wirtschaft angekurbelt und mit wachsendem Wohlstand kam mehr Wissen um die Umwelt und um das einmalige kulturelle Erbe der Insel. Natürlich war der Ort schon immer ein faszinierendes Thema, aber solange, wie die einzige Verbindung zum Rest der Welt ein Schiff war, das nur einmal im Jahr fuhr, passierte nicht viel. Tiefgreifende Veränderungen kamen erst in den 80er Jahren. Die letzten in der 300 Jahre alten Geschichte von ausländischen Invasoren waren die Ingenieure der US-amerikanischen Weltraumbehörde NASA. Überraschenderweise hatte diese Invasion aber ein gutes Ende. Mit ihrer Lage in der Mitte des Stillen Ozeans war die Insel ideal für eine Notlandebahn für NASAs Raumfähren. Bisher musste noch nie ein Shuttle hier landen, aber die vier Kilometer lange Landebahn wird nun von Jumbojets genutzt, die jetzt zwei mal in der Woche auf ihrem Weg von Tahiti nach Santiago de Chile hier zwischenlanden.
Mit jeder Landung kommen etwa 100 Touristen und nur wenige Tage vor der Jahrtausendwende war ich einer von ihnen. Fünf Tage lang genoß ich polynesische Gastfreundschaft, bewunderte die bis zu acht Meter hohen Moai Statuen, lauschte den Geschichten und Gesängen und entdeckte sowohl die traurige Vergangenheit der Insel als auch ihre vielversprechende Zukunft.

Vor kurzem haben meine Freunde und ich an einem Wochenende einen Kilometer kalifornischer Küste vom Dreck befreit. Und während wir so in einem Haufen von Plastikflaschen, Bierdosen und Zigarettenkippen saßen, erzählte ich meinen Freunden von meiner Reise und immer wieder mußte ich die kleine, grüne Insel inmitten eines gewaltigen Ozeans mit diesem kleinen, blauen Planeten inmitten eines gewaltigen Universums vergleichen.

Vielleicht muß unsere Welt ja eines Tages das Schicksal der kleinen Insel teilen. Und vielleicht erreichen irgendwann danach einmal außerirdische Besucher den kleinen, blauen Planeten am äußeren Ende des westlichen Spiralarmes der Galaxis. Dann werden außerirdische Archäologen versuchen, die Felszeichnungen der Navajo zu entziffern und hinter das Geheimnis der Pyramiden zu kommen. Außerirdische Biologen werden versteinerte Tannenzapfen sammeln und sich fragen, wie der Grizzlybär aussterben konnte. Und die letzten überlebenden Menschen werden den Außerirdischen die traurige Geschichte von Aufstieg und Fall der Menschheit erzählen und niemand wir die Frage beantworten können: "Wie konntet Ihr es nur so weit kommen lassen?"

Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, denn ich habe etwas gelernt auf dieser Insel: Es ist nie zu spät, etwas besser zu machen. Heute suchen einheimische Biologen auf der Insel in der Vulkanasche nach den eingeschlossenen Samen ausgestorbener Pflanzen. In den letzten Jahren sind 17 einheimische, einst verlorengegangene Pflanzen wieder auf der Insel angesiedelt worden und Dutzende Kulturdenkmäler wurden wiederhergestellt. Die Einwohner haben über die Hälfte ihrer Insel in einen Nationalpark verwandelt und haben kürzlich darüber abgestimmt, KEINEN Luxusschiffhafen zu bauen. Sie haben der Insel ihren alten, einheimischen Namen wiedergegeben und tragen T-Shirts, auf denen steht "Ich bin stolz auf Rapa Nui."

Sie haben wirklich allen Grund, stolz zu sein!


Zurück zu den Kurzgeschichten

Zurück zur Deutschen Hauptseite

Zurück zur Startseite