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Der Löwe und ich

Für Patrick.

Eines meiner liebsten Kinderbücher hieß "Tim und der Löwe." Der kleine Tim hatte Angst vor allem und jedem. Er hatte Angst vor der Dunkelheit, Angst vor Hunden, Angst vor anderen Kindern – einfach Angst vor allem. Aber eines Morgens, als er erwachte, saß ein kleiner Löwe vor seinem Bett und sagte: "Ich bin gekommen um dir zu helfen, deine Angst zu überwinden. Steck mich einfach in deine Tasche, und solange ich bei dir bin, kann dir nichts passieren".

Tim griff sich den kleinen Löwen, der genau in seine Hosentasche paßte, und von diesem Tag an änderte sich sein Leben. Er meisterte all die Situationen, vor denen er sich zuvor gefürchtet hatte und während er das tat fand er neue, gute Freunde, die ihm halfen, mit anderen, neuen angsteinflößenden Situationen fertig zu werden. Wann auch immer Tim die Angst hochkommen spürte, sagte er zu sich: "Mir kann nichts passieren, ich habe ja einen Löwen in meiner Tasche." Und eines Tages überwand Tim seine allergrößte Angst: er wehrte sich gegen den größten Rowdy seiner Schule. Nachdem er dem Jungen, der einen Kopf größer war als er, gezeigt hatte, daß er sich nicht fürchtet, steckte er seine Hand in die Tasche, um sich bei seinem Löwen zu bedanken. Aber in der Tasche fand er nur einen Zettel, auf dem Stand:

"Lieber Tim, Du bist nun mutig genug, um alleine mit der Welt fertig zu werden. Ich muß jetzt
weiterreisen und einem anderen kleinen Jungen helfen. In alter Freundschaft, Dein Löwe."
Vor sechs Jahren fühlte ich mich ganz so wie Tim – nur vierzig Jahre älter als er. Allein, verärgert, in Angst vor der Dunkelheit, vor anderen Menschen und vor der Welt. Sucht und Depression hatten mich fest im Griff und ich begann ernsthaft mit dem Gedanken zu spielen, den allerletzten Ausweg zu wählen. Doch dann stand eines Tages ein Löwe vor meiner Tür. Na gut, er war kein richtiger Löwe, sondern einer dieser domestizierten Nachfahren von Löwen. Er war voller Schmutz und Narben, in anderen Worten: er sah genauso heruntergekommen aus wie ich. Und ich bin mir absolut sicher, daß ich ihn sagen hörte: "Ich stecke genauso tief in der Patsche wie du, aber vielleicht können wir uns da ja gegenseitig heraus helfen."

Von diesem Tag an hatte mein Leben wieder Sinn und ich konnte der Welt die Stirn bieten, denn ich hatte ja einen Löwen in meiner Tasche. Das ganze passierte an einem 17. März, dem irischen Feiertag des heiligen Sankt Patrick. Also nannte ich meinen Löwen Patrick und ihm schien das zu gefallen.

Wie das Leben so spielt: am gleichen Tag fand ich ein paar neue Freunde, die mir mit dem einzigen Problem helfen konnten, von dem Patrick nichts verstand: mit meiner Sucht. Mit neuen Freunden, einer neuen Lebensphilosophie und einem Löwen in meiner Tasche war ich endlich in der Lage, all die Probleme zu bewältigen, die mich ein Leben lang belastet hatten. Und so konnte ich jedes Jahr am Tag des heiligen Patrick nicht nur meinem Löwen gratulieren, sondern auch mir selbst für ein weiteres Jahr ohne Alkohol und ohne Drogen – und mittlerweile sind das sechs Jahre! In diesen sechs Jahren hat mir das Leben alle möglichen Fallen gestellt, eine Scheidung, eine Entlassung, zwei Autounfälle, ein Insolvenzverfahren, zwei Operationen und drei Wurzelbehandlungen, aber mit der Lebensphilosophie, die meine neuen Freunde mich Schritt für Schritt lehrten, war das alles kein Problem; und mit einem Löwen in meiner Tasche brauchte ich vor nichts Angst haben!

In letzter Zeit ging es meinem Löwen nicht mehr besonders gut. Bis vor einer Woche wußte ich nicht mal, daß Kater Krebs kriegen können. Mein Löwe, der mir in jeder Schlacht zur Seite stand, konnte diesen Kampf nicht gewinnen. Und als sein letzter Tag nahte, tröstete mich die beste Frau der Welt damit, daß mein Löwe jetzt weiterreisen muß, um einem anderen kleinen Jungen zu helfen.

Gestern haben wir Patrick begraben. Wir gedachten des Löwen, der mir nicht von der Seite wich und seine eigene Krankheit ignorierte, bis er sich absolut sicher sein konnte, daß ich jetzt in guten Händen war und ohne ihn klar kam. Es ist ein tröstender Gedanke, daß mein Löwe jetzt irgendwo da draußen jemand anderem durch die Nacht hilft.

Leb wohl, Patrick, Du wirst mir noch lange fehlen!


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